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Leseproben

Hier kannst Du ein paar Auszüge Probe lesen. 

Einleitung

Einleitung

Ich bin
64 Jahre alt. Ich arbeite seit 30 Jahren als Psychotherapeut in Washington D.C.
und die Leute bezahlen mich dafür, dass ich ihnen Aufmerksamkeit schenke und
mein Bestes gebe, um ihnen zu helfen. Ich habe einigermaßen Talent darin, mit
den Menschen einen Weg zu finden, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.
Folgendes habe ich dabei gelernt:

Wir alle lügen wie
verrückt. Es macht uns krank. Es ist die
Hauptursache für allen menschlichen Stress. Lügen bringt die Menschen um.

Die tödlichste Art zu lügen,
ist das Zurückhalten oder Vorenthalten von Informationen vor jemandem, der
vermutlich davon betroffen ist. Die schlimmsten psychologischen Erkrankungen
kommen von dieser Art des Lügens. Psychologische Heilung ist nur durch die
Freiheit möglich, die entsteht, wenn man nichts mehr zurückhält. Geheimnisse
vor anderen zu hüten und sich zu verstecken, ist eine Falle. Jugendliche
verbringen einen Großteil ihrer Zeit damit, dieses Versteckspiel zu spielen. Je
besser du während deiner Jugend in diesem Versteckspiel wirst, desto
schwieriger ist es, erwachsen zu werden. „Wichtige“ Geheimnisse und
das ganze Ränkeschmieden sind Schwachsinn.

Der Verstand ist ein
Gefängnis aus Scheiße. Dieses Buch erklärt dir, wie dieses beschissene
Verstands-Gefängnis entsteht und wie du daraus fliehen kannst. Das hier ist ein
„So geht’s“-Buch in die Freiheit. Vor anderen Menschen etwas
zurückzuhalten, ihnen nicht zu sagen, wie wir uns fühlen und was wir denken,
hält uns in diesem Gefängnis gefangen. Je länger wir in diesem Knast sitzen,
desto eher geben wir auf. Entweder wir fliehen oder wir sterben. Der einzige
Ausweg ist es, zu lernen, die Wahrheit zu sagen.

Die meisten meiner
Klienten sind 20 und 65 Jahre alt und depressiv, ängstlich, wütend, ausgebrannt
oder eine Kombination davon. Ich arbeite mit Regierungsangestellten, Anwälten,
Geschäftsleuten, Medienexperten und anderen übergroßen Halbwüchsigen mit
überkritischem Verstand, die nicht aufhören, sich selbst zu verurteilen und zu
kritisieren und andere zu moralisieren. Ich möchte diesem Leiden ein Ende
machen, insbesondere ihrem Gefühl von Abgestumpftheit. Diese Abgestumpftheit
ist eine wenig intensive Form des Leidens. Sie entsteht aus einem ständigen
Auf-der-Hut-Sein vor einer möglichen großen Gefahr. Diese eingebildeten großen Gefahren
beruhen auf den Erinnerungen an frühere (emotionale) Verletzungen. Viele von
uns haben in ihrer Kindheit gelernt, dass es etwas Schlechtes ist, völlig
lebendig zu sein, und dass man dafür bestraft wird, also haben wir begonnen,
uns abzustumpfen: teils als Schutz und teils aus Trotz. Sich abzustumpfen, war
unsere Art, diese unangebrachte Lebhaftigkeit zu vertuschen, und die einzige
Möglichkeit, sie geheim zu halten.

Der Weg, der aus diesem
Leiden an Abgestumpftheit heraus führt, bringt anfangs noch größeres Leiden.
Wenn du beispielsweise für lange Zeit stumpf gelebt hast und nicht mehr weißt,
wie es sich anfühlt, wütend zu sein, wird das am Anfang schlimmer sein als die
Abgestumpftheit. Aber es ist einzig und alleine deine Bereitschaft, Schlimmeres
durchzumachen, um dich dann besser fühlen zu können. Es ist ganz normal, dass
du versuchen wirst, Fassung zu bewahren und weitere Schmerzen, Verlegenheit und
Schwierigkeiten zu vermeiden.

Normalität ist der
Schlüssel, Veränderungen zu vermeiden und weiter zu leiden. Wer normal sein
will, ist oft stolz darauf, doch gleichzeitig Opfer eines Ideals von
Normalität: sterbenslangweilige, todbringende Normalität. Sigmund Freud hat
einmal gesagt, dass die Psychoanalyse den Menschen hilft, vom extremen Leiden
zum allgemeinen Unglücklichsein zu gelangen. Ich glaube nicht, dass wir uns
damit begnügen müssen. Ich helfe den Menschen dabei, ihre Aufmerksamkeit zu
fokussieren und ihren Mut zusammenzukratzen, um das bislang vermiedene Leiden
zu erforschen und darüber hinaus zu einem wahrhaft abnormalen Leben zu kommen.
Sich dem zu stellen, was man bislang vermieden hat, führt zu intensiven
Emotionen und zu einem Überfluss an Kreativität. Diese überschäumende
Kreativität ist die Quelle der Kraft, die wir brauchen, um unser Leben neu zu
formen.

Meine Arbeit ist
vergleichbar mit einem KFZ Mechaniker, der einen verbogenen Kotflügel wieder
gerade biegt. Wann, wie und vor allem warum ein Unfall passiert ist, macht für
den Mechaniker keinen Unterschied. Er ist nur am Ergebnis interessiert. Er haut
mit dem Gummihammer von außen drauf, klopft die Delle von innen aus, bohrt ein
Loch, fixiert einen Stab und versucht, ihn wieder auszudellen oder haut mit
einem Stein drauf. Wenn es dann geklappt hat, schleift er ihn ab, lackiert ihn
und fertig. Wenn er ihn nicht reparieren kann, ersetzt er ihn. Er ist
pragmatisch, erfahren und vertraut auf die grundsätzliche Flexibilität des
Materials. Sorgfältige Aufmerksamkeit und Herumprobieren mit jeder neuen Delle
bringen immer wieder neue Ergebnisse.

Ich arbeite mit den
Menschen an ihrem individuellen und selbstgemachtem Leid, und sie sind auch
selbst dafür verantwortlich, immer weiter zu leiden. Wie der Mechaniker und der
Besitzer konzentrieren wir uns nur auf den Zustand der Maschine und die gewünschten
Ergebnisse; wir müssen nicht herausfinden, wie der Unfall passiert ist, und wir
messen Erfolg oder Versagen unserer Bemühungen daran, wie nahe wir an das
gewünschte Ergebnis gekommen sind.

Ich arbeite
hauptsächlich mit „gewöhnlichen“ Neurotikern: durchschnittliche,
eigentlich gesunde Menschen, die unter Angst, Depressionen oder beidem leiden.
Oft werden diese Grundzustände des Seins – Angst oder Depression – von
körperlichen Beschwerden begleitet wie Hautausschlägen, Magengeschwüren,
Rückenschmerzen, chronischen Darmentzündungen, Allergien, Bluthochdruck und
Schlaflosigkeit oder von wiederkehrenden Problemen in Beziehungen, auf der
Arbeit oder in der Familie. Wenn die Therapie funktioniert, verschwinden die
körperlichen Beschwerden oder verringern sich in ihrer Schwere; Angst und
Depression als permanenter Grundzustand verschwinden; und die Menschen
übernehmen Verantwortung für ihre Beziehungen, ihr Arbeitsleben und ihr
kreatives Schaffen. ‚Verantwortung‘ zu übernehmen bedeutet, dass ein Mensch
nicht mehr äußere Umstände, andere Menschen oder vergangene Ereignisse für den
aktuellen Zustand verantwortlich macht.

Sowohl die körperlichen
Beschwerden als auch die ungewünschten emotionalen Stresszustände verschwinden,
weil man lernt zu akzeptieren, dass die Welt ist wie sie ist. Die Therapie ist
abgeschlossen, wenn eine Person aufhört, ständig zu erwarten, dass die Anderen
anders sein sollen als sie sind, wenn die Person ihren Eltern und anderen
bisher verkrachten Nahestehenden verziehen hat, wenn die Person die Macht über
das eigene Leben zurückverlangt und die Verantwortung übernimmt, das auch zu
tun.

Psychotherapie
funktioniert nicht immer. Meiner Schätzung nach sind bei etwa einem Drittel der
Patienten die Ergebnisse gut bis angemessen, ein Drittel der Klienten macht ein
paar halbherzige Veränderungen und ein Drittel der Hilfesuchenden, die zu mir
kommen, nehmen aus der Therapie nichts Nennenswertes mit. Sehr wenige tragen
einen Schaden davon, da es mindestens genauso schwer ist, jemanden zu schädigen
wie ihn zu heilen. Ich habe viel Scheitern und viel Erfolg gesehen. Dieses Buch
ist ein Versuch zu beschreiben, was klappt, wenn es denn klappt. Wenn die
Therapie funktioniert, ist das Ergebnis ein Gefühl des Wohlbefindens, der
Ganzheit, der Vollständigkeit. Dieses Buch handelt von dem Weg dorthin.

Woher kommt Stress?

Die
Leute sagen, das moderne Leben sei stressig. Stress ist keine Eigenschaft des
Lebens oder bestimmter Zeiten, Stress ist eine Eigenschaft des Menschen. Stress
kommt nicht von der Umwelt, sondern vom Geist des gestressten Individuums.
Manche Dinge nehmen wir über unsere Welt einfach an und halten daran fest. Wir
leiden unter dem Denken. Wir haben zu hart an unserer Vorstellung von der Welt
gearbeitet, um sie einfach aufzugeben. Wie ein Pokerspieler, der schon zu viel
verloren hat, verdoppeln wir den Einsatz, in der Hoffnung das Schicksal dadurch
zwingen zu können, uns bessere Karten zu geben. Wir denken zu viel und zu ernst
und wir leiden stark unter dem Versuch, die Welt an unsere Vorstellungen anzupassen.
Wir beschweren uns darüber, dass die Welt sich nicht unseren Erwartungen
anpasst. Wir denken darüber nach, wie das Leben nicht hält, was es verspricht,
und wie mies das ist und wie wir das in Ordnung bringen können. Viele denken
sich zu Tode.

Um
zu überleben müssen wir umsetzen, was uns die Erfahrung gelehrt hat. Aber
genauso müssen wir immer wieder in Frage stellen und ‚überwinden‘, was wir
vorher gelernt haben, um wachsen – um am Leben bleiben zu können. Wenn wir
nicht irgendwie vor unseren Annahmen über die Welt gerettet werden, fressen sie
uns auf. Deswegen müssen wir erkennen, dass die Annahmen, die wir so stur für
Wahrheiten halten, tatsächlich unsere Entscheidungen über das sind, was unserer
Erfahrung nach „wahr sein sollte“.

Die Wahrheit verändert sich

Weil
wir uns in unserem eigenen Verstand verlaufen haben, erkennen wir nicht, dass
die Wahrheit sich verändert. Wenn sich die Wahrheit verändert und wir nicht
erkennen, was jetzt wahr geworden ist, sondern an der ‚Idee‘, was einmal wahr
gewesen ist, festhalten, werden wir zu selbstmörderischen Lügnern. Wenn ich um
20 Uhr sauer auf dich bin und dir das sage, du dann auch auf mich sauer wirst
und wir darüber reden, ernsthaft kommunizieren und daran glauben, den Ärger
überwinden zu können, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir um 20.45
Uhr zusammen lachen und einen trinken können und nicht mehr sauer sind. Es
stimmt, dass ich um 20 Uhr stinksauer auf dich war. Irgendwann zwischen 20.20
und 20.45 Uhr war es dann aber nicht mehr wahr. Im Gegensatz dazu können
Menschen nach dem Prinzip leben „Ich habe dich damals aus gutem Grund
gehasst, deswegen hasse ich dich immer noch“ und niemals loslassen. Das
macht Sinn, ist aber dumm. Ich habe in meinem Leben viele logische, aber dumme
Menschen getroffen.

Das Leben geht weiter
und Wahrheiten verändern sich; so ist eben das Leben. Was einmal wahr war, ist
manchmal schnell nicht mehr wahr. Die Wahrheit von gestern ist der Schwachsinn
von heute. Auch ist eine gestern befreiende Einsicht das Gefängnis starrer
Erklärungen von heute.

Rollen und Regeln sind
auch Gedanken, die, wenn sie einmal als Prinzip angenommen werden, schwer zu
überwinden oder gar zu verändern sind.

Die Menschen würgen ihr
eigenes Leben aus, indem sie sich an ein irgendein gewähltes „Selbstbild“
klammern. Viele Erwachsene sind in einer sich stets wiederholenden Unmündigkeit
und Schutz bietend beschränkten Auswahl von Rollen und Regeln gefangen. Diese
Art von Schutz bringt dich um. Laut einer Studie des ‚Center for Disease
Control‘ in Atlanta versterben 53% der unter 65 jährigen an „Gründen, die
direkt mit ihrer Lebensweise zusammenhängen“.
Die Hälfte aller Menschen, die unter ihrer Lebenserwartung sterben, bringen
sich also durch ihren Lebensstil selbst um. Ich behaupte, sie bringen sich bei
dem Versuch um, den ungestillten Hunger nach alltäglichen Erfahrungen zu
kompensieren. Sie rauchen, trinken, nehmen Drogen, essen fettes Fleisch,
schauen fern und machen keinen Sport. Sie arbeiten hart, um zu überleben, und
kümmern sich um sich selbst und ihre Familien. Sie versuchen, eine gute Zeit zu
haben und geben ihr Bestes. Sie geben ständig ihr Bestes und es ist ihnen nie
gut genug. Sie bringen sich mit den gleichen sozial akzeptierten Giften um, wie
es auch ihre Freunde tun. Auch sie waren einmal absolut lebendig und haben sich
nach und nach in ihrem Verstand verloren. Sie vermissen etwas, das sie
irgendwie nicht ganz bekommen. Sie wissen, dass eine neue Lebenslust bedeuten
würde, dem Verstand und von ihm aufgebauten Lebensumständen zu entfliehen, aber
sie scheinen es einfach nicht zu schaffen. Moral, eine Krankheit, die entsteht,
wenn man ohne Erlösung im Verstand lebt, bringt sie um. Sie sterben, gefangen
in einem Country-Song, dabei ihr Bestes zu geben und zu versuchen, ein bisschen
Spaß zu haben, ohne dass es jemals gut genug für irgendjemanden wäre, am
wenigsten für sie selbst, oder sie genug Spaß hätten, um für ihre Mühen
entschädigt zu werden.

 Befreiung aus einem solchen „Leben“
ist eine psychologische Meisterleistung. Die Freiheit, die Menschen erreichen,
die über die Grenzen ihrer frühkindlichen Konditionierung hinauswachsen, ist
die Befreiung aus ihrem eigenen Verstand. Befreiung aus ‚deinem eigenen
Verstand‘, ist Freiheit zu erschaffen. Aber um an diesem kreativen
Schaffungsprozess teilzuhaben, musst du bereit sein, die Wahrheit zu sagen.
Ehrlich zu sein befreit uns aus der Falle unseres eigenen Verstandes.

Die Alternative zur
Freiheit wäre es, nach einem Programm vorgefertigter, verinnerlichter
Moralvorstellungen zu leben. So zu leben bedeutet langsam zu ersticken, was uns
gleichzeitig noch toter und hoffnungsloser macht.

Kreativität, den
Verstand zu nutzen und nicht von ihm
benutzt zu werden, ist das Heilmittel für alle stressbedingten Erkrankungen.
Wenn du bereit bist, die Wahrheit zu sagen, um dich von deinem heimlich
verurteilenden, geheimnishütenden Verstand zu befreien, schafft das die
Möglichkeit, deinen Verstand zu nutzen, um zukünftig mehr als Künstler denn als
Opfer zu leben.

Bullshit – Schwachsinn

Bullshit
ist ein hoch technischer Terminus, der in diesem Buch durchgängig verwendet
wird. Ich habe diesen Begriff von Fritz Perl geklaut, dem Begründer der
Gestalt-Therapie. Die Abstrahierung früherer Erfahrungen, die für aktuelle
Erlebnisse gehalten werden, sind die Hauptfehler des gewöhnlichen Neurotikers.
„Ich bin seit 20 Jahren mit dir zusammen, es ist doch offensichtlich, dass
ich dich liebe.“ Beweise aus der Vergangenheit bedeuten überhaupt nichts
für aktuelle Erfahrungen. Wir Neurotiker sind Menschen, die große
Verallgemeinerungen machen, um lange Zeiträume zu überdecken. Wir sagen Wörter
wie „Du … immer …“ und
„Du … nie …“. Wir geben
den Umständen die absolute Macht, indem wir Sätze sagen wie „Es macht mich
…“. Wenn wir solche Dinge sagen, machen wir uns gar nicht bewusst, dass
wir in einer imaginären, selbst erschaffenen Welt leben. Fritz Perls hat sogar
drei technische Unterscheidungen  für die
einzelnen, giftigen Wertzuweisungen gemacht: Hühnerkacke, Bullshit und
Elefantenscheiße. Ein bisschen Scheiße, Scheiße und totale Scheiße. Ein
bisschen Scheiße ist eine normale Begrüßung, die nicht das meint, was man sagt:
„Hallo, wie geht’s?“ „Danke gut, und selbst?“. Scheiße ist
eine normale Unterhaltung, in der die Gesprächspartner die Zeit mit belanglosen
Abstrahierungen und Verallgemeinerungen totschlagen. Totale Scheiße ist jede
Diskussion im Rahmen von Gestalt-Therapie oder radikaler Ehrlichkeit.

Ich verwende Wörter mit
„Scheiße“, um Bewertungen an sich abzuwerten. Ich möchte, dass die
Leser zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das, was sie am
meisten wertschätzen, vielleicht gar nicht so wertvoll ist. Ich möchte, dass
die Menschen ihre eigenen Gewissheiten hinterfragen. (Wie Nietzsche sagte:
„Nicht der Zweifel, sondern die ‚Gewissheit‘ ist es, die uns in den
Wahnsinn treibt.“)
Der Einfachheit halber werde ich deswegen „Bullshit“ als Grundwort
für alle wert-assoziierten Abstraktionen oder Verallgemeinerungen von
erinnerter Erfahrung benutzen.

„Bullshit“
ist jede Abstraktion, die dein Verstand macht und der er einen Wert gibt.
„Du liebst mich nicht“ oder „Diese Menschen sind gemein“
oder „Das ist hässlich (schön, gut, schlecht, wichtig, etc.)“ sind alles
‚Interpretationen‘ der Realität. Bullshit ist eine Art Verkaufsargument für eine
Interpretation der Realität, mit der jede Interpretation der Realität verknüpft
ist. ‚Alle‘ Interpretationen von Realität sind Bullshit. Freiheit heißt nichts
anderes, als nicht von Deinem eigenen Bullshit dominiert zu werden.

Wir glauben fest an
unsere persönliche Interpretation der Realität und wir möchten, dass die
anderen unserer Interpretation zustimmen, damit wir uns sicher fühlen. Wir
glauben, dass unsere Interpretationen Realität ’sind‘, und wenn wir genug
Zustimmung finden, können wir es beweisen.

Einige wenige von uns
können gelegentlich dem Bullshit-Gefängnis unseres Verstandes entkommen. Die
meisten von uns sterben in diesem Gefängnis. Wir alle haben die großartige
Möglichkeit, immer wieder aus diesem Gefängnis auszubrechen. Der erste Schritt
in diesem Prozess ist es, den Verstand anzuzweifeln. Die Wahrheit wird im
menschlichen Verstand zu Bullshit, wie Essen im menschlichen Körper zu Scheiße
wird. Unser Verstand arbeitet auf ziemlich gleiche Art und Weise wie unser
Verdauungssystem. Der Verstand ist ausgebildet, gute, nährende Wahrheiten
aufzunehmen, möglichst alles daraus zu absorbieren und den Rest zu Scheiße zu
verarbeiten. Unglücklicherweise scheidet der Verstand ungleich dem Körper
seinen Müll nicht automatisch aus. Wir müssen das bewusst tun.

Laut Hugh Thomas, Autor
des Buches Eine Geschichte der Welt,
war der größte medizinische Fortschritt die Müllsammlung.
Der größte psychologische Fortschritt ist quasi um die Ecke und hat auch mit
Aufräumen zu tun. Mit Lügen aufräumen und „Coming Outs“ bekommen
heutzutage zunehmend Aufmerksamkeit. Eines Tages werden wir auf diese Jahre, in
denen wir an Bullshit erstick sind, ebenso zurückblicken, wie wir heute darauf
zurückblicken, wie die Menschen in ihrem eigenen Müll gelebt haben und daran gestorben
sind.

Lügen

Dieses
Buch enthüllt schrittweise die Entwicklung des Verstandes von seiner Entstehung
hin zu dem Verstand eines jungen Erwachsenen. Die zentrale Botschaft dieses
Buches ist, dass wir Menschen uns im Laufe unseres Erwachsenwerdens in unserem
Verstand verlaufen und dass es uns langsam umbringt, wenn wir nicht wieder
rausfinden.

Wir alle haben einen
Verstand und wir alle bekommen ihn ganz von alleine. Von früher Kindheit bis
ins Erwachsenenalter lernen wir zu überleben, benutzen zunächst unsere ‚Sinne‘
als Hauptmodus zur Orientierung in dieser Welt und werden schließlich zu
Verstandeswesen, die sich an ‚Prinzipien‘ orientieren. Wir leiten sie von
unseren Sinneswahrnehmungen ab und bilden unseren Verstand aus. Nach einer
Weile sind wir so damit beschäftigt, unseren Verstand weiterzuentwickeln, dass
wir den Bezug zu unseren Sinnen verlieren und in unserem Verstand
verlorengehen. Unser Verstand ist aus Interpretationen der Realität geformt,
die auf wiederholten Erfahrungen basieren. Wenn ein Baby erlebt hat, immer
wieder gefüttert zu werden, fängt es an, aufgrund seines Hungergefühls und
kleines Gedächtnisses das „gefüttert werden“ zu erwarten und nach
Milch zu schreien. Und wenn zügig mehr Milch kommt, entsteht plötzlich ein
feines kleines Konzept, welches das Element Zeit beinhaltet. Das Baby
interpretiert: „Wenn ich schreie, bekomme ich Milch“. Diese
Interpretation enthält eine Erinnerung und eine Erwartung an die Zukunft.

Während wir aufwachsen,
lernen wir, unsere Erfahrungen zu interpretieren um zu überleben. Langsam
können wir für uns selbst sorgen, doch können uns unsere Überlebenstechniken
umbringen, was auch gelegentlich geschieht. Unser intensives Klammern an
Interpretationen und diese nicht von der Realität unterscheiden zu können, ist,
was uns umbringt. Zu lernen, wie man Erfahrungen kategorisiert, aber die
Unterscheidung zwischen Kategorie und Realität zu verlernen, ist der Prozess,
den ich ‚Lügen lernen‘ nenne.

Jeder Mensch lernt ganz
natürlich, wie man vorspielt, interpretiert, bewertet und sich seine
Wirklichkeit einbildet. Es macht Spaß. Die meisten Lernerfahrungen der frühen
Kindheit, Vorschule und Grundschule verfeinern diese Fähigkeiten. In jeder
Kultur der Welt findet dieser Vorgang des Täuschen-Lernens beim Aufwachsen
statt.

Der lange Prozess des
Lügen-Lernens findet seinen Höhepunkt in der Jugend. Jugendliche verlieren sich
in ihrer Vorstellung, wer sie sind. Erik Erikson sagt, die große Frage der
Jugend ist  „Wer bin ich?“, und
die Antwort darauf ist entweder bruchstückhaft (Rollenverwirrung) oder einig
(Ego Identität). Um über diese Rollen spielende oder vortäuschende Stufe hinaus
zu wachsen, muss die Frage „Wer bin ich?“ irgendwie einheitlich
beantwortet werden (die zahlreichen Rollen, die Kinder ausprobieren, müssen in
eine schlüssige Identität integriert werden, die bestehen bleibt, auch wenn
neue Rollen angenommen werden). Diese einmalig entstandene Persönlichkeit muss
schlussendlich über Rollenanforderungen dominieren, wie sie von Vorbildern oder
Idealen dargestellt werden. Es muss eine „Jill-heit“ darin geben, wie
Jill ihre Rolle als Tochter, Liebhaberin oder Kellnerin spielt, die immer da
ist, ob sie mit ihrer Mutter spricht, bei ihrem Liebhaber ist oder gerade
kellnert. Diese „Jill-heit“ sticht hervor, unabhängig davon, ob ihre
Mutter, ihr Liebhaber oder Kunden in der Umgebung sind, und unabhängig davon,
wie sie diese Rollen im Fernsehen gesehen hat.

Die Dauer dieser
Entwicklungsstufe, der Stufe des Vorspielens und Rollenausprobierens, um deine
Identität zu finden, hängt von deiner Kultur ab. Je technologischer die Kultur
desto länger dauert die Phase. Buschmänner haben ein Jahr Zeit, ihre Identität
zu formen – vom 11. bis 12. Lebensjahr; mit 12 Jahren haben sie ihre Berufung
gewählt, geheiratet, angefangen Kinder zu bekommen und übernehmen eine
Erwachsenenrolle. In unserer Kultur dauert die Jugend vom 11. bis zum 30. oder
35. Lebensjahr an.

Diese Verlängerung, um
über seine berufliche, sexuelle und soziale Identität zu entscheiden, ist eine
zweischneidige Angelegenheit. Aktuell
findet sich die am schnellsten wachsende Todesrate in unserer Gesellschaft im
Altersbereich von 15-24 Jahren
. Suizide, Drogenüberdosen, Unfälle und Mord
führen die Liste der Gründe hierfür an. Wir haben zwar mehr Zeit, uns zu
erfinden, aber wir zahlen dafür auch einen höheren Preis.

Auch wenn die Menschen
ihre Jugend überleben, kommt die große Mehrheit nie über die Täuschungen der
Jugend hinweg. Großes Leid entsteht, indem man an dieser Täuschung festhält.
Sogenannte „professionelle Helfer“ empfehlen oft mehr
(Selbst-)Täuschung oder konventionelles Lügen, da sie nicht verstehen, dass die
eigentliche Aufgabe von Psychotherapie darin besteht, die Menschen wieder in
die Welt der Erfahrung zurückzuführen und zu verankern.

Der Stress, der den
Großteil der Bevölkerung entweder umbringt oder verkrüppelt, entsteht dadurch,
dass die Menschen zu hart zu sich selbst sind und weil sie nicht erfüllen
können, was andere ihrer Meinung nach von ihnen erwarten. Wir wissen oft nicht,
wer wir sind, und versuchen daher zu erraten, wer wir sein sollen, um alles
richtig zu machen und glücklich zu sein. Wir verlieren uns bei diesem Prozess
und verdammen uns dafür, bevor wir bemerken, wie verletzt wir sind. Es hilft
niemandem einfach nur zu befolgen, was andere vielleicht von uns erwarten. Wir
müssen wieder fähig werden, auf etwas anderes zu achten als das Wirrwarr an
Fragen und Zweifeln über das, was nötig ist, um akzeptiert zu werden. Wir haben
die Fähigkeit  verlernt, außerhalb der
ganzen Annahmen zu leben, die unseren Geist ausmachen – und die einzige
Orientierung, die uns bleibt, sind die Rollen, die wir ausprobiert haben. Daher
rennen wir durch die Welt und irren in unserer Gedankenwelt umher, in dem
Versuch, den Erwartungen zu entsprechen, die andere unserer Meinung nach an uns
haben, während wir nach etwas dürsten, das uns gewöhnliche Erfahrungen geben
können. Wir versuchen, die Speisekarte zu essen anstelle des Gerichts.
Speisekarten haben einen Nährwert von Null und schmecken Scheiße, egal  wie schön die Abbildungen darauf sind.

Jugendliche vermissen
die Sicherheit der Kindheit und können die Unsicherheit nicht aushalten, sich
zwischen Kindheit und Erwachsensein zu befinden. Aus Angst und Intoleranz
dieser Zweideutigkeit gegenüber klammern sie sich an Rollen oder einen starren
Standard, um damit eine Identität zu erschaffen, mit der sie dem unendlichen
Kampf um „ihren Platz“ entkommen möchten. Sie werden Christen oder
Hare Krishnas, Mitglied einer Gang oder Hippies oder sie heiraten eine
Jugendliebe, einfach nur um irgendwohin zu gehören. Sie übernehmen die
Standards und Regeln dieser Gruppen um danach zu leben. Alle Regeln und
Standards, die definieren, wie man zu leben hat, haben eins gemeinsam: Sie sind alle Abstraktionen des Geistes,
Zusammenfassungen früherer Erlebnisse, keine tatsächlichen Erfahrungen
.

Je unsicherer sich die
Heranwachsenden fühlen, desto leidenschaftlicher klammern sie sich an
Prinzipien. Umso stärker man sich an diese Prinzipien klammert, desto starrer
wird man dabei, und das verstärkt die Unsicherheit noch mehr. Dieses Verhalten
hilft nicht gerade dabei, eine Veränderung zu durchleben. Die Welt der
Erfahrung ist wie ein Fluss. Du bist mit einem Boot besser dran als mit dem
Pfosten, an den Du dich klammerst, während das Wasser dich zu Tode prügelt. Um
über die Jugend hinauswachsen zu können, müssen die Menschen loslassen, anstatt
stärker an ihren Prinzipien und Standards festzuhalten. Das Loslassen kann
einem ganz schön Angst machen, wie wenn man sich rückwärts ins Unbekannte
fallen lässt. Daraus zieht man eine Erfahrung im Hier und Jetzt. Den Kampf um
Identität wieder hervorzuholen, wirkt bei Personen, die in ihrer
Rollendefinition erstarrt sind, am besten, wo doch dieser Kampf durch das
Festklammern an einer bestimmten Rolle aus Ignoranz anderen gegenüber so
erfolgreich unterdrückt wurde. Diese Menschen werden aus ihrem mentalen
Gefängnis befreit und im Hier und Jetzt wieder geboren.

Menschen lernen nicht
Prinzipien als in Stein gemeißelte Regeln, sondern als weniger wichtige und
über den Daumen gepeilte Richtlinien anzunehmen, die durch neue Erfahrungen
überprüft werden müssen. Diese Daumenregeln können verbessert, abgelehnt oder
gänzlich neu erschaffen werden, wenn man neue Erfahrungen zulässt. Das Buch von
Allan Watts Die Weisheit der Unsicherheit
geht auf diesen Punkt ausführlich ein.

Wer sehr an seinen
moralischen Prinzipien hängt, nimmt nur Erfahrungen wahr, die die Richtigkeit
seiner Prinzipien bestätigen und sonst nichts.

Fritz Perls, einer
meiner Lehrer, empfiehlt den Menschen, „ihren Verstand zu verlieren und wieder
zu ihren Sinnen [zu] kommen“. Solange Menschen, die einen Verstand entwickelt
haben, nicht lernen, ihren Verstand zu verlieren und wieder zu ihren Sinnen zu
kommen – der Schwerkraft, ihren eigenen Körpern, der Welt der realen Objekte
und anderen Lebewesen dort draußen ihre Aufmerksamkeit zu schenken – bleiben
Sie in ihren eng definierten Vorstellungen darüber, „wie die Dinge sind“,
gefangen und werden nie neue Erfahrungen machen. Yogis, buddhistische Mönche,
Golfprofis, ein paar Patienten der Psychotherapie, manche Musiker und eine
wilde Mischung verschiedener Menschen schaffen es, trotz ihres Verstandes,
wieder aufmerksam zu sein. Irgendwie schaffen es diese Personen, sich
gelegentlich von ihrem Verstand zu befreien.

Der Verstand ist etwas Furchtbares; vernichte ihn

Dieses Buch skizziert
die Probleme, die ein ständig interpretierender, lügender Verstand verursacht;
Probleme, die entstehen, wenn man nicht über das Lügen Lernen hinauswächst. Es
gibt Beispiele, wie das Zurückhalten von Wahrheit das Leben massiv
verschlechtert oder sogar beendet.

In der Psychotherapie
kann man lernen, endlich erwachsen zu werden: aus der vorübergehenden
Entwicklungsstufe des jugendlichen Lügens und Fantasierens zurück zur
Kreativität zu finden. Was ich hier entwickelt habe, ist eine Behandlung dieses
Problems, in der Jugend stecken geblieben zu sein, ein Problem, das meiner
Meinung nach 75% der Bevölkerung unserer modernen technologischen Welt
betrifft. Die Essenz dieser Behandlung ist die klare Vereinbarung, sich
gegenseitig und jedem, den der Patient persönlich kennt, die Wahrheit zu sagen,
um so aus dem Labyrinth herauszufinden. Das verspricht uns erwachsener zu
machen – basierend auf Erfahrungen anstatt Aberglaube und Moral. Um vollständig
erwachsen zu werden, müssen wir ironischerweise wieder entdecken, was uns
früher so klar gewesen ist. Sobald wir uns wieder auf unsere eigenen
Erfahrungen konzentrieren, wie wir das als Kind getan haben, können wir unseren
Verstand auch wieder als Mittel zur Kreativität nutzen anstatt als
Verteidigungssystem unseres Selbstbildes.

Zuletzt können wir die
wahre Welt der Erfahrungen im Hier und Jetzt mit der Welt vereinen, wie wir sie
aus unseren Erinnerungen und Interpretationen kennen. Um diese Vereinigung zu erreichen,
müssen wir Energie freigeben, indem wir voll aufleben, anstatt unsere gesamte
Energie darauf zu verwenden, uns und andere durch Zurückhaltung kontrollieren
zu wollen.

In anderen Worten:  das Geheimnis ist es, die Wahrheit zu sagen.
Die Kraft zur Wahrheit zu entwickeln, ist der Schlüssel zu einem Leben jenseits
des jugendlichen Moralisierens.

Die Psychotherapie
bietet eine Möglichkeit, sich aus dem Würgegriff von Konzepten zu befreien, die
wir aus Effizienz und Vermeidung von Erfahrungen gelernt haben. Wie schon
gesagt, manchmal funktioniert es und manchmal nicht. Die Effektivität einer Psychotherapie hängt ausschließlich davon ab, ob
der Patient bereit ist, die Wahrheit zu sagen, und das gilt innerhalb und
außerhalb des Behandlungsraums.

Es gibt viele alte
Konzepte über das Lügen und Posieren hinaus zu wachsen. Die meisten
historischen, spirituellen, religiösen und mythologischen Lehren basieren auf
der psychologischen Entwicklung weniger weiser Menschen, die es anderen möglich
gemacht haben, ihnen zu folgen. Heutzutage haben wir alle die Möglichkeit
diesen Weg zu gehen.

Wenn wir als Einzelne
wie auch als Kollektiv vor uns selbst gerettet werden wollen, müssen wir mehr
über die Kunst des Ehrlichseins lernen. Keiner von uns kann das ohne Hilfe
schaffen.

Zusammenfassung

Meine
Patienten und ich haben voneinander gelernt, dass die Wahrheit zu sagen, die
wichtigste Voraussetzung dafür ist, erwachsen zu werden. Dieses Buch behandelt
das gesamte Problem „ehrlich sein“: was daran so schwierig ist, wie Lügen
verletzen und unsere eigenen Interessen sabotieren und wie wir alle Lügner
sind. Es scheint ganz normal zu sein, das eigene Leben zu ruinieren und sich
selbst umzubringen, indem man die Wahrheit zurückhält. Es scheint auch normal,
sich nicht weiter zu entwickeln und an einer Ansammlung stressbedingter
Erkrankungen langsam zu sterben. Übergewicht, Verklemmtheit, starkes Rauchen
oder Trinken, Faulheit, Mangel an Bewegung oder eine Mischung daraus sind
unmittelbare Ergebnisse einer zentraleren Erkrankung unseres Verstandes. Diese
Todesarten entstehen, wenn man in seinem von Lügen dominierten Verstand
gefangen bleibt. Um sich aus der Lügenfalle zu befreien, muss man lernen,
ehrlich zu sein und diese Haltung ständig zu üben (wie man auch Golf oder
Tennis üben muss).

Wir alle sind davon
betroffen. Und die meisten von uns sind nach wie vor an Aufklärung und Wahrheit
interessiert, aber gleichzeitig wollen wir zeigen, dass wir trotz unserer
schweren Kindheit besser sind als alle anderen. Sich selbst zu rechtfertigen,
ist der normale Weg, sich durchs Leben zu leiden. Das lernt man auch an
katholischen Schulen, juristischen Fakultäten und den meisten anderen Schulen
(besonders aber in den zwei ersten).

Aber gleichzeitig sind
wir alle Teil eines Projekts, nämlich herauszufinden, was es heißt, lebendig zu
sein. Wenn wir lügen, uns verstellen oder gewisse Unannehmlichkeiten vermeiden
– grundlegende Taktiken der Rechtfertigung – entdecken wir nichts Neues über
das Leben und wir helfen auch den Anderen nicht dabei. Interesse an diesem
gemeinsamen menschlichen Projekt ist ein wichtiger Teil der großen Diskussion,
die wir Menschen seit Tausenden von Jahren führen. Für mein eigenes Wohl möchte
ich mit Menschen zusammen sein, die herausfinden möchten, wie es ist, so zu
leben, dass kein Wort ungesagt und nichts ungetan bleibt; ich möchte Menschen
um mich haben, die nach der Wahrheit hungern, ihre Zeit damit verbringen
möchten, dazuzulernen und das Gelernte mit anderen zu teilen, anstatt ihren Ruf
oder ihr Selbstbild zu verteidigen. Dieses Buch habe ich für genau diese Gruppe
von Menschen geschrieben, die tagtäglich wächst – für diejenigen, deren
Wissensdurst und Bereitschaft zu teilen größer ist, als ihre Angst vor Scham
und Bloßstellung. Ich schreibe für alle, die ihrer Jugend entwachsen wollen,
auch wenn diese Jugend aktuell als Erwachsensein angesehen wird, für Paare, die
es satt haben, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen; ich schreibe für
diejenigen, die mehr an Integrität oder Ganzheit interessiert sind als an Moral
und Rollenbildern. Dieses Buch ist ein Gegengewicht zum konventionellen Leiden.
Ich hoffe, es empört, verletzt und inspiriert dich, und ich hoffe, dass es die
Macht deines Verstandes über deinen Geist brechen wird.



Kapitel 14 – Die Fakten zusammengefasst

wischen dem Mut zu sein und dem Mut auf der Basis
eines starken Willens. Wir brauchen keine Willenskraft, wir brauchen
Gewilltheit. Willenskraft ist im Kern des lebensvergiftenden Systems, welches
uns alle krank macht. Nur wer sich des Wesens bewusst wird, das unter den
Regeln und der Ordnung existiert, und sich mit diesem Wesen identifiziert, kann
sich aus dieser Falle befreien. Dieses Wesen ist immer gewillt. Die
Selbstgeißelung und Selbstverdammung, die aus dem Gewissen als Oberhaupt folgt,
ist ein Teufelskreis. Lass dein Gewissen nicht über dich bestimmen. Folge
allem, aber nicht deinem Gewissen.

Albert Camus nannte es
„die Frage des Alters“, ob man sich umbringen sollte. Mit anderen Worten: Ist
das Leben den ganzen Aufwand wirklich wert? Willst du wirklich leben oder
entscheidest du dich dagegen? Ich sage, die wichtige Frage ist “Wer fragt? Wer
fragt dich? Woher kommt die Frage?“ Der Richter, der echte Erfahrung
durch die Entfremdung seiner Beurteilung vergiftet hat, will jetzt darüber
richten, ob das Leben die Mühe wert ist, obwohl nach seiner Beurteilung das
Leben nie die Mühe wert sein kann. Solch eine arrogante Frage: “Ist das Leben
die Mühe wert?“ Wird sie verneint und die Person bringt sich um, ist der
Richter auf Kosten des Wesens, das ihn erschaffen hat, doch wieder beschützt.

Recht haben ist nicht
das Wichtigste im Leben. Wenn es das wäre, könntest du dich ebenso gut wirklich
umbringen. Bereit sein, offen sein, darauf kommt es an. Wenn wir gewillt sind,
sind wir Idioten, wie dir wahrscheinlich jeder sagen wird. Genau richtig.
Idioten stürzen sich hinein und lernen alles Mögliche, wovon Engel niemals
hören werden.

Gnade

Zu
erfahren, wie ein Teufelskreis von Urteilen durchbrochen werden kann, nennt der
gute Christ “Gnade“. Das Ereignis, das diesen Durchbruch herbeiführt, nennt er
ein christliches Ereignis. Die historische Geschichte von Christus handelt von
einem Mann, der die Geschichte durchbrochen hat wie einen Teufelskreis des
Verstandes. Ein christliches Ereignis ist alles, was dich aus deinem
konventionellen Kreislauf wachrüttelt und dir deine Aufmerksamkeit zurückgibt.
Gott ist eine gewillte und offene Haltung. Gott ist das unwillkürliche
Nervensystem, das alles in deinem Körper am Laufen hält, gleich was du denkst.
Mit Gott bist du durch deine Aufmerksamkeit verbunden und indem du wirst, was
du in Wirklichkeit immer gewesen bist, nämlich aufmerksam. Du bist mit Gott
verbunden, indem du Gott wirst. Wenn du dir um den Kontakt zu einer anderen
Person bewusst bist, bist du in Kontakt mit Gott. Gott ist das kollektive
unwillkürliche Nervensystem der Menschen. Gott ist die unbeschreibliche
Erfahrung von Bewusstsein um den Kontakt mit einem Anderen. Gott heißt dich
selbst, wie du bist, und den anderen, wie er ist, wahrzunehmen. Gott ist das
ewige Sekundenbruchteil- und Lichtgeschwindigkeits-Wesen. Gott ist das ach so
Objektive, ganz subjektiv wahrgenommen. Bewusstsein ist der Schlüssel zu Gott.
Ich glaube, Kierkegaard meinte mit “Jemand, der mit einem Anderen verbunden ist
und mit der Verbindung verbunden ist, ist dadurch mit Gott verbunden“
ein Bewusstsein, das bewusst mit einem anderen Bewusstsein und allem
Bewusstsein verbunden ist. Ein Wesen, das mit einem anderen Wesen verbunden
ist, ist damit auch mit allen Wesen verbunden. Wir alle (Buddhisten, Christen,
Hindus, Psychotherapeuten und Verliebte) sind uns darüber einig.

Offen und gewillt zu
sein, bedeutet nicht, dass man nicht hin und wieder Urteile fällt. Bewusst sein
bedeutet nicht, dass du kein Gewissen hast. Der Unterschied ist flexibel. Wie
du wahrscheinlich bemerkt hast, habe ich besonderen Spaß daran, die katholische
Kirche zu be- und verurteilen. Ich liebe es darüber, Recht zu haben und
rechthaberische Empörung über diese armen Arschlöcher zu empfinden. Ich genieße
das Gefühl ebenso, wie jeder rechthaberische Depp, einschließlich der
Katholiken. Der Unterschied ist, dass mich mehr als nur mein Glaube bestätigt,
was mehr Glück als Verstand bedeutet. Ich hatte Glück. Diese armen leidenden
Ärsche, die nie über ihre unreife Moralität herauswachsen konnten, die sich als
stählerne Faust der Regeln der Welt aufspielen, ihren Glauben leben und lieber
morden als für ihren Glauben sterben. Priester und Generäle und knallharte
Revolutionäre brauchen religiöse Ereignisse, um von der tödlichen
Ernsthaftigkeit ihres Spiels erlöst zu werden. Republikaner, Anwälte, John
Ashcroft, Katholiken, Baptisten, Schiiten, Moslems und andere kindisch
moralische Arschlöcher sind großartige Ziele für meine eigenen kindischen
Rechthabereien und Moralisierungen. Wenigstens kann ich meine genießen und ab
und zu locker lassen. Deswegen tun sie mir auch ein bisschen leid und ich habe
sogar ein wenig Mitleid für ihre Abhängigkeit und Gerechtigkeit. Jetzt ist das
dreckige kleine Geheimnis gelüftet. Dein Gewissen ist der Teufel. Die
Revolution unserer Zeit ist die Revolution des Gewissens. Die Regierung, die
gestürzt werden muss, ist die Regierung des Gewissens, die Bürokratie der
Moralität. Das Gewissen wohnt im Sein. Wir entwickeln unser Bewusstsein, um den
Teufel zu besiegen.

Jeder weiß ganz
intuitiv, dass Bullshit-Moralität und Regeln des guten Benehmens der
offiziellen Religionen rein gar nichts mit der spirituellen Erfahrung zu tun
haben, auf die Religion aufgebaut ist. Die Frage danach, wie wir uns benehmen
sollten, ist schier nicht zu beantworten. Am nächsten kommt einer Antwort, die
innere Haltung, gewillt zu sein und abzuwarten, was passiert. Die meisten sind
vielleicht bereit, das zu versuchen, wenn sie sicher sein könnten, dass es
niemand anderes tut. Wir denken uns Regeln aus und verkaufen sie den anderen,
um in erster Linie unseren eigenen Arsch zu retten.

Die Wahrheit ist: Wir
wachsen auf. Wir werden alt. Wir sterben. Wir alle tun es, und wie wir das tun,
ist eigentlich ziemlich egal. Wir alle machen es in etwa gleich. Daran zu
glauben, dass wir das Richtige tun, ist der Kern unserer Illusion von Kontrolle
über diesen Prozess, in dem wir keine echte Kontrolle haben können. Glauben ist
nur sinnvoll als Spielzeug. Einen Glauben zu lieben, ist wie einen Teddy zu
lieben. Einen Glauben zu verteidigen, als wäre er heilig, beweist nur deine
Dummheit. Das glaube ich wirklich.

Das Gedicht Lament
(Klagelied) von Dylan Thomas handelt vom Großwerden, Altwerden und Sterben.
Die Todesart ist am Ende Tod durch Tugend. Von der Tugend umgebracht zu werden,
ist die am weitesten verbreitete Todesart. Durch Tod sagt die Natur dir,
endlich locker zu lassen.

In diesem Gedicht geht
es um einen alten Mann, der auf sein Leben zurückblickt. Dylan Thomas hat es
für seinen Vater geschrieben, als der im Sterben lag.

Lamento

 

Als ich ein geriebenes Knäblein war und ein
Krümel

Und das spuckschwarze Spießchen in der
Kirchengemeinde

(Seufzte, an Frauen krepierend, der alte Bock),

Da zehenspitzte ich scheu in den Stachelbeerwald,

Der Schuhuh rief wie ein plapperndes Herrlein,
ein Lümmel,

Ich leichtfußte rosig, da die rundlichen Mädchen
Kegel

Schoben auf der gemeinen Esel Gemeindewiese,

Und an Wuppdich-Wochenenden da betörte ich bald,

Wen-auch-immer ich ansah mit bösewichtigen Augen,

Den vollen Mond konnte ich lieben und wieder
lassen,

Die vielen grünblättrigen kleinen gehochzeiteten
Frauen

Unterm kohlschwarzen Busch, ließ sie trauern und
hassen.

 

Als ich ein durchschauerter Mann war und ein
halber dazu

Und der schwarze Unhold im rammelnden
Kirchengestühl,

(Seufzte, an Weibchen krepierend, der alte Bock),

Kein Knäblein mehr, kein Krümel im
dochttrunkenden Mond

Und trunktaumlig wie ein frisch auf die Beine
gefallenes Kalb,

Die Nacht pfiff ich lang in den verschlängelten
Windungen,

Hebammen wuchsen in mitternächtlichen Rinnen,

Und die hitzebrutzelnden Betten der Stadt riefen:
Flink! —

Wann immer ich in brusthohe Untiefen tauchte,

Wo immer Klee-Kissen durchstampfend ich ging,

Was immer ich tat in der kohlschwarzen

Nacht, ich hinterließ meine nachbebende Spur.

 

Als ich ein Mann war, den man einen Mann nennen
konnte,

Und das schwarze Kreuz auf dem Rücken vom
heiligen Haus,

(Seufzte, an Willkomm krepierend, der alte Bock),

Scharfschnapsig reifplatzend in hell-baßtöniger
Blüte,

Kein Frühlings-Ringelschwanzkater bei
heißläufigen Häusern

Mit jedweder hitzeschimmernden Frau zur Maus,

Doch ein hoch und höckriger Bulle, der in der
Glut

Des Sommers herrlich kommt nach eignem Maß

Zu den schwül verharrenden Herden, sagt ich,

Oh, Zeit bleibt genug, wenn gänsehäutig das Blut
kriecht,

Und wenn ich mich bette, einzig um schlafend zu
liegen,

Für meine schmollende, grollende kohlschwarze
Seele!

 

Als ich nur halb noch war von dem Mann, der ich
war,

Und es geschieht mir wohl recht, wie die Prediger
sagen,

(Seufzte, am Sturz krepierend, der alte Bock),

Kein strampelndes Kalb, keine feuergefangene
Katze

Oder haselnußstabiger Bulle im milchigen Gras,

Nur ein schwarzes Schaf mit einem Krumpelhorn

Aus ihrem Mauseloch stahl sich die Seele dann
doch

Mit dicker Lippe als die Baumelzeit kam.

Und ich gab ihr ein blindes Auge, ’nen Schlitz,

Knorpel und Pelle und eines Schreihalses
dröhnendes Leben,

Und ich schob’s schielend in den kohlschwarzen
Himmel hinein,

Um eine Frau zu finden, ihrer Seele wegen.

 

Ein Mann werd ich nun nie und niemals mehr sein,

Und bin fürs lodernde Leben ein schwarzer Lohn,

(Seufzt, an Fremden krepierend, der alte Bock),

Im täubchengurrenden Zimmer, verdammt und rein,

Leg schmal ich mich nieder zum Tratschen ehrbarer
Glocken —

Denn, oh, meine Seele nahm sich einen
Sonntagsrock

Im kohlschwarzen Himmel, und Engel hat sie
geboren!

Harpyen umschwirren mich aus ihrem Schoß!

Die Keuschheit betet für mich, die Frömmigkeit
singt,

Die Unschuld versüßt meinen schwarzen Atem
allein,

Die Sittsamkeit hält meine Schenkel mit Flügeln
umringt,

Und die tödlichen Tugenden suchen im Tode mich
heim!*

*Deutsch
von Klaus Martens.

 

Da hast
du es. Lebendigkeit wird zur Tugend, die zum Tode führt. Für manche ist das wie
Tod durch Langeweile. Für andere ist es der Tod des Egos und macht Platz für
die Wiedergeburt der Lebendigkeit. Der Tod, der Wiedergeburt verursacht, ist
wie zu lernen, ehrlich zu sein. 

Marilyn Ferguson redet
davon, wie wir immer wieder versuchen, unser armes kleines Gehirn zu benutzen,
um auf dem neuesten Stand zu bleiben, und was für armselige kleine Komikfiguren
wir bei dem Versuch abgeben. “Veränderung und Komplexität übersteigen immer
unsere Kraft der Beschreibung… Wenn die linke Gehirnhälfte einer nicht
linearen Dimensionen begegnet, bewegt sie sich im Kreis, bricht Ganzes in Teile
auf, löscht Daten und stellt unangebrachte Fragen, wie ein Reporter auf einer Beerdigung.
Wo, wann, wie, warum? Wir müssen diese Fragen vorerst verhindern, das Urteil
aufschieben, sonst können wir die andere Dimension ebenso wenig ’sehen’, wie
wir alle Perspektiven einer optischen Täuschung zugleich sehen können – oder
von der Symphonie mitgerissen werden, während wir die Komposition analysieren.“
Wir alle sind diese idiotische Art linker Gehirnhälfte. Wir sind Deppen, rennen
halbfertig durch die Welt, altmodisch, erinnerte Erfahrung und ausrangierte
Modelle des Verstandes. So funktionieren wir. Es ist unsere Natur. So sind wir
alle gestrickt. Das abzustreiten, ist wie eine Behinderung. Das zu bestätigen,
ist der normale Wahnsinn.

Unsere Ära ist die Ära
der Weltherrschaft minderbemittelter Anonymer. Die Mitglieder der
minderbemittelten Anonymen haben aufgegeben, beweisen zu wollen, dass sie keine
Idioten sind. Jeder, der dumm genug ist, auf sein eigenes Urteil zu vertrauen,
ist ein Vollidiot und zwar der Bekloppteste von allen.

Wir rufen vergangene
Gefühle entweder durch Erinnern oder Wünschen wieder hervor. Wünschen und
Erinnern sind Versuche am Leben zu bleiben, belebt von Gefühlen, die wir noch
einmal erleben möchten. Wünschen und Erinnern machen viel Spaß. Wenn wir uns
erinnern, können wir für kurze Zeit die Gefühle wieder erleben. Wir bekommen
die Chance, schöne Gefühle der Vergangenheit noch einmal zu erleben, und wir
haben den Eindruck von Kontrolle und Abstand zu dem, was wir erinnern. Aber
diese wieder erlebten Erfahrungen versickern langsam. Vielleicht weil zu viel
Himmel irgendwann zur Hölle wird. Im Himmel gibt es nicht viel zu tun. Alles
ist schon repariert, nichts ist kaputt. Der Himmel macht müde. Nostalgie ist
nicht mehr das, was sie einmal war. Also lenken wir unsere Aufmerksamkeit
darauf, neue Fantasien zu beleben, basierend auf schönen Erinnerungen. Diese
Fantasien über die Zukunft, basierend auf der Vergangenheit, sind Hoffnung und
Schwindel, mit dem wir uns selbst betrügen. Auch wenn wir bekommen, was wir
immer wollten, sieht es dann doch nicht so aus, wie wir es uns vorgestellt
haben. Erfolg führt zu Desillusionierung. Wie die Ecclesiasten sagen “Alles ist
Einbildung und Streben nach Wind.“ Am Ende sind wir wieder in der Hölle. Unsere
Erinnerung an den Himmel macht die Hölle erst möglich. Erst Jahre später geben
wir unser Vertrauen auf die Fantasien und Tagträume auf und spielen dennoch
damit.

Dann entdecken wir die
guten Nachrichten, dass die Hölle den Himmel möglich macht. “Gib alle Hoffnung
auf, wenn du hier eintrittst“, stand am Eingang zu Dantes Hölle. Aber dieser Trip
in die Hölle war das erste Stückchen Weg in den Himmel. “Gib alle Hoffnung auf,
wenn du hier eintrittst“, ist in Wirklichkeit das Schild am Eingang zum Himmel.
Jeder, der erwachsen wird, muss durch eine spätpubertäre Hölle gehen. Wir
müssen lernen, unsere Lügen zu leben, damit wir stark werden können. Wir müssen
uns in unseren Lügen verlieren, bevor sich eine Möglichkeit auf Rettung vor der
Hölle ergibt. Wir müssen lernen, unsere Erfahrungen durch Wünsche, Hoffnung,
Erinnerungen, Lügen und den Verstand zu kontrollieren. Wir müssen das
erfolgreich tun und daran verzweifeln und davor weglaufen, ohne die Vorteile zu
verlieren.

Das ganze Lernen von
Bewerten war nur ein Trick. Wenn es wertlos geworden ist, wird es nützlich. Wir
können ein Spiel aus den Träumen, der Mode und dem Intellekt machen, und die
Spielregeln ändern, wann immer wir möchten. Realität ist weder Himmel noch
Hölle, sie ist ein Spielplatz, auf dem du dich auch hin und wieder verletzen
kannst. Die Minderbemittelten lieben die Seifenopern, weil sie sich dann
vorstellen können, nicht solche Idioten zu sein. Die Idioten in den Seifenopern
sind die Vorstellung vieler Menschen von einem schönen Leben. Seifenopern gibt
es ohne Lügen nicht und umgekehrt. Die Minderbemittelten idealisieren Idiotie,
indem sie abstreiten, Idioten zu sein. Was du anstelle deiner Lebendigkeit
bekommst, ist deine durchschnittliche Seifenoper.

Lügen

Wenn du
lügst, also Informationen oder Gefühle verheimlichst, dann tust du das, um
etwas Unbedeutendes zu schützen. Normalerweise beschützt du eine Erinnerung, um
einen konstanten Zustand zu bewahren. Du kannst nicht erkennen, dass du etwas
Bedeutungsloses beschützt, da die Illusion über dein Selbst, die du beschützt,
deine Sicht blockiert. Erst wenn du diese Illusion durch Ehrlichkeit zerstörst,
kannst du sehen, dass sie bedeutungslos war. Bedeutungslosigkeit ist viel wert.
Wenn du endlich verstehst, dass du eigentlich leer und bedeutungslos bist, ist
dir egal, ob du ein Idiot bist. Darin liegt deine neue Kraft.

Du hältst dich selbst
vielleicht für einen “guten“ Menschen. Vielleicht lügst du, um Andere “zu
beschützen“. Dieser Andere, den du beschützen willst, ist noch vergänglicher
als dein Selbstbild. Leute mit deinen Lügen beschützen zu können, ist ebenso
Einbildung wie dein Selbstbild. Das ist die imaginäre Welt des Erwachsenseins.

Deine Chance, erwachsen
zu werden, steht in unserer erwachsenen Welt schlecht. Manchmal haben wir die
Gelegenheit, aber wir bleiben höfliche tatenlose Idioten, die sich für
besonders halten, und nur einfach nicht bekommen, was sie verdienen. Die
meisten denken, dass das Leben nicht hält, was es verspricht und uns nicht
richtig belohnt. Nach einer Weile halten wir uns nicht mehr für so heiß und
fangen an zu träumen, was alles hätte sein können. So läuft das Leben für uns
normalerweise. Wir haben alle lange darauf gewartet, über unsere positiven und
negativen Selbstbilder hinauszuwachsen, aber haben Angst davor. Die meisten von
uns schaffen es nie, weiter als zu jugendlicher Hoffnung, Schwindel und Enttäuschung.
Mit Wünschen kann man die Realität unterdrücken. Hoffnung blüht immer neu.
Scheiß auf Hoffnung. Die Hoffnung hält die meisten von uns davon ab, erwachsen
zu werden.

Die Kraft des positiven
Denkens ist der größte Haufen von Bullshit der heutigen Zeit. Positives Denken
ist für negative Menschen. Wer positiv denken und bejahen muss, geht von einem
fehlerhaften Selbstbild aus und will sich durch Gedanken vollständig machen.
Denken ist keine Quelle von Kraft. Sein dagegen ist es. Und durch das Sein sind
wir schon vollständig.

Was unser Verstand tut,
um zu überleben, ist pure Einbildung. Außerdem überleben am Ende weder das
Selbstbild noch das Sein, denn wir alle sterben. Nur unsere Bereitschaft und
Offenheit ist gefährdet und kann angesichts unserer Sterblichkeit den Verstand
davon abhalten, das Leben aus uns herauszupressen, bevor wir sterben. Das Sein,
in dem der Verstand haust, ist bereit zu leben und zu sterben. Der Verstand
hält Leben und Tod für wichtig. Das Sein hält Leben und Tod für Leben und Tod.
Den eigenen Verstand überlebt man, indem man sich selbst als das Sein
identifiziert, das man wirklich ist, und dementsprechend lebt anstatt nur nach
einem Selbstbild. Der Verstand erwächst aus dem Sein. Der Verstand ist eine
tolle Sache! Wenn der Verstand das Sein nicht versklavt, ist er eine tolle
Sache. Seine Regungen machen Spaß. Fantasien machen Spaß, Vorhersehen und
Kontrollieren machen Spaß, genauso wie Lob und Ergebnisse erzielen und
Schöpfungen Spaß machen. Die ganze Mühe um den Verstand rechtfertigt, dass er
sich als wunderbares Spielzeug herausstellt. Ich empfehle Spaß – auch wenn ich
nicht empfehle, aus der Philosophie von Spaß mehr Moral zu ziehen. Es ist okay,
vom Leben nicht alles zu bekommen. Es ist okay, das Leben einfach geschehen zu
lassen und nicht nur die Bonbons zu wollen. Alles zu erreichen, macht viel zu
viel Arbeit. Was immer sich zu tun lohnt, ist es auch wert, schlampig zu tun.
Lass alles los!

Das ist also das Große
und Ganze. Das kleine jugendliche Feuer des Lebens beginnt bei der Empfängnis
eines menschlichen Wesens und brennt bis ans Ende des Lebens. Das kleine Feuer
der Erleuchtung folgt etwa vier bis sechs Monate später im Mutterleib und
brennt bis ans Ende. Das kleine Feuer der abstrakten kognitiven Fähigkeiten
beginnt mit zehn oder elf Jahren und brennt ebenfalls bis ans Ende. Die Energie
dieser ganzen kleinen Feuer, die sich zu einem Großen ausgebreitet haben, muss
auf etwas noch Größeres als nur Feuer angewandt werden, damit sie nicht
ausbrennt.

Probleme aus Spaß erschaffen

Wenn
wir uns die Zukunft vorstellen, um die Lücke zu füllen, die durch Aufgeben
entstanden ist, erschaffen wir ein neues Problem. Wenn wir “ja“ zu einer
Chance, einem Projekt oder einer Aktivität sagen, dann sterben dadurch andere
Möglichkeiten. Du kannst nur eine begrenzte Anzahl von Träumen auf einmal
verwirklichen. Wenn wir diese anderen Möglichkeiten nicht sterben lassen
können, behindert das nur unsere Kraft und Lebendigkeit der Sache gegenüber,
für die wir uns entschieden haben.

Dieses Buch ist für Leute,
die schon ein paar Verirrungen im Leben erlitten haben. Also für jeden. Mein
Vorschlag, sich zur Befreiung zusammenzuschließen, ist für Leute, die bereits
ein paar Mal gerettet und wieder verraten worden sind. Du kannst den Wert einer
Gruppe daran erkennen, dass ihre Mitglieder sich gegenseitig im Zustand von
Unsicherheit, verstärkter Erfahrung und Lebendigkeit unterstützen, die täglich
deine vom Verstand kreierte Identität bedrohen.

Wenn wir von
Verzweiflung gedämpft und offizielle Versager sind, wissen wir zwei Dinge ganz
genau:

1. Es gibt keine
zuverlässige Wahrheit. Es gibt eine mehr und weniger zuverlässige Wahrheit,
aber die verändert sich.

2. Es gibt eine
zuverlässige Basis allgemeiner Vereinbarung und das sind Sinneswahrnehmungen.
Wir können und müssen annehmen, dass ein direkter Bericht von
Sinneswahrnehmungen einer gemeinsamen Erfahrung am Nächsten kommt.

Aus diesen
Sinneswahrnehmungen entsteht eine ganz simple Sprache. Wenn wir mit Lone-Ranger
und Tonto-Sprache miteinander reden, bleiben wir auf dem Boden echter
Tatsachen. Zu diesem Anfang können wir immer wieder zurückkehren, wenn wir uns
verlaufen haben.

Der Verstand ist ein
Netz von Abstraktionen, und wenn ein Verstand erst mal gewachsen ist und
genährt wurde, ist es unser Job, sich aus dem Netz zu entwirren und wieder auf
den Boden der Tatsachen zu stellen. Das sind nicht immer Tatsachen, ich weiß,
aber das beschreibt es am besten. Es ist die einzige Realität, die wir haben.
Es ist eine riesige These, dass dein und mein Schmerz derselbe ist, dein und
mein Vergnügen dasselbe ist, unsere Vorstellungen zusammen passen, aber die
Annahme ist nötig, um irgendwo anzufangen. Als Daumenregel: Wenn die Wahl
besteht zwischen Verlorenheit in der Stratosphäre des Verstandes und der
Einfältigkeit bodenständiger Sinneswahrnehmungen, dann entscheide dich für den
Boden und nimm wahr. Seltsame und wunderbare Dinge geschehen, wenn man sich auf
dem Boden der Tatsachen unterhält.

Die, die in der
Stratosphäre von Interpretationen schweben, sind Anwälte und Ähnliche. Die auf
dem Boden sind Hinterwäldler, alle möglichen professionellen Athleten,
Zen-Meister, Gestalt-Therapeuten, Komiker und ein paar andere ehrliche Seelen.

Die Tür zur Verankerung
in der eigenen Wahrnehmung nennt sich Verzweiflung (engl. “despair“). Das Wort
kommt ursprünglich aus dem Lateinischen: de und sperare, bedeutet
“von“ und “Hoffnung“. “Von der Hoffnung“. Die einzige Hoffnung ist es, die
Hoffnung aufzugeben. Die einzige Hoffnung kommt aus der Verzweiflung. Gib alle
Hoffnung auf, gib Romantik auf und lerne die Erden-Sprache. Die Wahrheit ist
nicht irgendeine gute Story, die dir früher passiert ist. Es ist vielleicht
unterhaltsam, Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, aber wenn das
alles ist, wird es schnell langweilig. Die Wahrheit kannst du nur sagen, wenn
du beim Erzählen der Person gegenüber wirklich präsent bist. Wenn ich einem
anderen beschreibe, wie die Dinge gerade sind, erzähle ich rein aus meiner
Sicht.

Ich kann nur eine
Wahrheit sagen, die gerade meine Wahrheit ist. Wir müssen uns nicht einig sein.
Wir müssen uns nur gegenseitig zuhören und verstehen, wie es für den anderen
gerade ist.

Letzte Worte

Dean
Rusk hat seine Frau nie geschlagen. Er war ein ordentlicher Mann. Ein
Liberaler. Er war Vorsitzender der Ford Foundation. Und als Staatssekretär
während des Vietnamkriegs hat er über hunderttausend Menschen in einem
nutzlosen, verheerenden, unnötigen und dummen Krieg getötet. Die Welt wäre wohl
besser dran, wenn er eine bessere Methode gefunden hätte, mit seiner Wut
umzugehen. Dasselbe kann über George W. Bush gesagt werden und viele, viele
andere in unserer mächtigen, aber rückläufigen Gesellschaft. Die Zeit dieser
Typen vergeht mit ihrem Jahrhundert, wenn auch sehr langsam.

 

Nach
einer langen Phase romantischen Idealismus entwickelt die Menschheit langsam
eine neue Lebensart. Viele folgen großen Denkern der Vergangenheit, die
wussten, dass Neurosen (auch wenn sie es anders nannten) die Beschäftigung des
Verstandes mit gewissen Aufgaben sind und dass Schöpfung die Heilung dagegen
ist. Viele Jahrhunderte lang haben Poeten, Philosophen und Wissenschaftler
einen anderen Bereich des Seins angenommen, der lebt, ohne etwas verlieren oder
gewinnen zu können.

Wir müssen der Welt
nicht mit Voreingenommenheit von Gedanken und Gefühlen über gut und schlecht
begegnen oder darüber urteilen, ob die Welt gut oder schlecht für uns ist. Wir
können ebenso leicht das Schöpfungsspiel leben.

Ich glaube, dass die
Faszination für dieses Schöpfungsspiel schon reicht: das ist eigentlich das
einzige Spiel. Und dieses wunderbare Spiel, das einst nur einer ausgewählten
Gruppe Inspirierter vorenthalten war, wird jetzt den Massen zugänglich, da
unsere Kultur selbst erwachsen wird. Unsere Kultur wird zum ersten Mal seit
Anbeginn der Zeit zu einem Ort Erwachsener.

Persönliche
Unabhängigkeitserklärungen schießen wie Pilze aus dem Boden. Ehrliche Menschen
erkennen und grüßen sich. Folgende Auszüge aus Erica Jongs Gruß an Walter
Whitman
fasst in Worte, wie man endlich erwachsen werden kann.

Ich liebe Erica Jong
aus denselben Gründen, aus denen sie Walter Whitman liebt. Diese Zeilen ihres
Gedichts sprechen für uns alle zu uns allen und mit ihnen und einem kurzen
Gedicht von mir selbst, das ich nach ihrem Vorbild geschrieben habe, beende ich
dieses Buch.

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  • Einleitung

  • Kapitel 14 – Die Fakten zusammengefasst

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